Antimuslimischer Rassismus und islamistische Onlinepropaganda
Antimuslimischer Rassismus ist im Netz allgegenwärtig – bis hin zu rechtsextremer Onlinepropaganda. Doch auch islamistische Akteure instrumentalisieren islamfeindliche Äußerungen und Handlungen, um im Netz massiv zu mobilisieren. Das wiederum nutzen Rechtsextreme für ihre Agenda: Eine verhängnisvolle Wechselseitigkeit. Islamistinnen und Islamisten docken dabei im Rahmen ihrer Medienstrategie dort an, wo junge Menschen mit Rassismuserfahrung Ablehnung erleben und sich ohnmächtig fühlen. Junge Userinnen und User werden hier zumeist auf subtile Art angesprochen: Im Vordergrund steht die angebotene Möglichkeit, dem eigenen Leidensdruck Luft zu machen und sich gemeinsam stark zu fühlen. Jugendliche sollen so für die islamistische Weltanschauung gewonnen werden.
Antimuslimischer Rassismus: Abwertung von Musliminnen und Muslimen
Antimuslimischer Rassismus grenzt Musliminnen und Muslime als vermeintlich homogene Gruppe von der Eigengruppe (für gewöhnlich „die Deutschen”) ab und konstruiert sie als „die Fremden“ mit bestimmten, meist negativ erachteten Eigenschaften. Wer in diesem Konstrukt als „muslimisch“ und damit als „anders“ bzw. „fremd“ gilt, das ist ebenso Ergebnis kollektiver Zuschreibung wie die Assoziation bestimmter abwertender Eigenschaften, z.B. rückständig, homophob oder gewalttätig.
Gesellschaftliche (Macht-)Positionen spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, wer als „fremd“ bzw. „anders“ wahrgenommen wird. Auch bei der gesellschaftlichen Konstruktion des „Muslimisch-Seins“ wird auf kollektives Wissen zurückgegriffen, das sich aus bestimmten Stereotypen speist. Dabei ist es zuvorderst nicht relevant, ob die pauschal als „Muslime“ gefassten Personen tatsächlich praktizierende Gläubige sind. Ihre Zugehörigkeit wird ihnen von außen als alles bestimmende, dauerhafte und unveräußerliche Eigenschaft angehaftet. Aufgrund dieser zugeschriebenen Zugehörigkeit und der damit verbundenen, unterstellten ‚Wesensmerkmale‘ werden Menschen als minderwertig erachtet, marginalisiert, diskriminiert und angefeindet.
Antimuslimischer Rassismus weist somit die gleiche Funktionsweise wie andere Rassismen auf und widerspricht elementaren Prinzipien demokratischen Zusammenlebens wie dem der Gleichheit und der Vielfalt.
Vorurteilsbeladene Berichterstattung und islamistische Verwertung
In öffentlichen Debatten vermengen sich immer wieder Ressentiments gegenüber muslimischen Menschen undifferenziert mit der Angst vor der Gefahr, die von islamistischen Fundamentalisten ausgeht. So etwa, wenn wiederholt pauschalisierend über das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung diskutiert wird, oder wenn Zeitungen während der Corona-Pandemie von einem „Ramadan-Chaos” reden und damit der muslimischen Bevölkerung eine Unfähigkeit zur Disziplin unterstellen.
In der medialen Berichterstattung werden nicht selten negative Verhaltensweisen von muslimisch gelesenen Menschen auf „den Islam“ zurückgeführt und dabei nicht zwischen kultureller und religiöser Zugehörigkeit differenziert. Islamistische Onlinepropaganda greift dies auf. Sie sieht den medialen Umgang mit „dem Islam“ und „den Muslimen“ als vermeintlichen Beweis dafür, dass die Mehrheitsgesellschaft „der muslimischen Gemeinschaft“ feindlich gegenübersteht. Dabei wird diese Gemeinschaft von Fundamentalistinnen und Fundamentalisten selbst als ebenfalls geschlossene, homogene Einheit verstanden und dargestellt.
Islamistinnen und Islamisten sehen muslimische Menschen in Deutschland einer massiven „Medienhetze” ausgesetzt: Sie würden aktiv bekämpft und gezielt denunziert, besonders durch „westliche“ Medien, die stereotype Darstellungen des Islams und der Muslime verbreiteten und muslimisches Leben gezielt falsch repräsentieren. Sich selbst inszenieren Islamistinnen und Islamisten dabei als Opfer der öffentlichen Meinungsmache: Die Mehrheitsgesellschaft stigmatisiere sie ungerechtfertigt zu „Tätern“.
Tatsächlich ist die Berichterstattung zum Thema Musliminnen und Muslime sowie zum Islam in vielerlei Hinsicht zu kritisieren (siehe Info-Kasten). Islamistische Akteure haben jedoch an der pluralistischen Lösung dieses Problems kein Interesse.
Die pauschal unterstellte Feindschaft der westlichen Gesellschaft und die Viktimisierung der Eigengruppe spielt in der islamistischen Propaganda eine zentrale Rolle: Gezeichnet wird das übersteigerte Bild einer feindlichen Umgebung für muslimisches Leben in Deutschland. Die ausgewählten Medienberichte dienen dafür als Beleg. Islamistische Propaganda spricht so junge Userinnen und User, insbesondere jene mit Rassismuserfahrungen, argumentativ und emotional an. Dafür werden etwa Feindseligkeiten, die es fraglos gibt, als absolut, universell und unauflöslich dargestellt.
Der Islam in den Medien
Studien etwa von Kai Hafez oder Yasemin Shooman zeigen, dass Massenmedien „den Islam“ oder „die Muslime“ häufig eher in negativen Kontexten wie Terrorismus, Frauenunterdrückung und Fundamentalismus aufgreifen. Wenngleich es sich dabei um spezifische Problemlagen handelt, so erlaube diese Themen- und Darstellungsmuster nur eine äußerst begrenzte Sicht auf die islamische Welt. Begleitet durch eine entsprechende Bildsprache, etwa die vollverschleiernde Burka, die in Deutschland kaum anzutreffen ist, werden so bestimmte Vorstellungen produziert, bestätigt und verbreitet. Dadurch können Ressentiments gegenüber Musliminnen und Muslimen in der Gesellschaft aufrechterhalten oder verstärkt werden.
Näher mit dem Thema befasst sich auch der Beitrag „Rassismus und Repräsentation: das Islambild deutscher Medien im Nachrichtenjournalismus und im Film“ von K. Hafez und S. Schmitt (Bundeszentrale für politische Bildung, 2020).
Antimuslimische Hasskommentare bestärken islamistische Agenda
Userinnen und User, die etwa aufgrund eines arabisch oder türkisch verstandenen Usernamens als muslimisch gelesen werden, sind auch im Netz häufig rassistischen Anfeindungen ausgesetzt. Kommentarspalten auf Social Media oder Tweets zu Pressemeldungen mit realem oder auch nur vermeintlichem islamischen Bezug sind massiv durch Hassrede geprägt. Oftmals wird darin Musliminnen und Muslimen eine generelle Nähe zu Kriminalität, Terrorismus und Gewalttaten unterstellt. Die Bandbreite antimuslimischer Kommentare reicht von Beleidigungen bis zu Gewaltaufrufen.
In Tweets oder auf Blogs werden zudem gezielt Falschmeldungen mit Bezug zum Islam (weiter-)verbreitet, um Hass auf Musliminnen und Muslime (oder von muslimisch etikettierten Personen) zu schüren und um entsprechende Hassrede zu provozieren.
Solche Hetzinhalte und Online-Angriffe greifen Islamistinnen und Islamisten auf, liefern vereinfachte Erklärungsmodelle dafür und präsentieren sich als Vertreterinnen und Vertreter für islamische Belange angesichts medialer Attacken. Von legitimen demokratischen Kritikerinnen und Kritikern bzw. Aktivistinnen und Aktivisten unterscheiden sie mehrere Aspekte. Zum Beispiel, dass ihnen an einer Auflösung
oder Beseitigung von Vorurteilen und Hass im Rahmen antirassistischer konstruktiver Politik und zivilgesellschaftlichem Engagements nicht gelegen ist. Oder, dass sie eine Zusammenarbeit mit Akteuren, die für dieselben Ziele eintreten, ablehnen, weil dies nicht zu der von ihnen propagierten Weltsicht passt.
Nährboden der Agitation: Rassismuserfahrungen junger Musliminnen und Muslime
Islamistinnen und Islamisten knüpfen an Diskriminierungs- und Marginalisierungsgefühle von Jugendlichen an. Innerhalb ihrer Propaganda verbinden sie alltägliche Rassismuserfahrungen vieler junger Userinnen und User mit gesellschaftspolitischen Debatten, beispielsweise um das Kopftuch. So wird das Gesamtbild eines anmaßenden Westens gezeichnet, der gezielt die Freiheiten von Musliminnen und Muslimen beschneidet.
Besonders in Deutschland geborene und aufgewachsene junge Menschen, die muslimisch identifiziert sind, haben aufgrund erlebter Diskriminierung ein spezifisches Gefühl des „Fremdseins im eigenen Land“: Das Gefühl, nicht gehört und nicht gesehen zu werden – mehr noch: nicht akzeptiert und erwünscht zu sein.
Islamistinnen und Islamisten greifen dies auf. Sie geben den betroffenen Jugendlichen das Gefühl von Anerkennung, bestätigen und bestärken aber auch das des Ausgegrenzt-Seins. So wird eine durchweg ablehnende, gar feindliche Umgebung konstruiert, in der Musliminnen und Muslime niemals einen Platz fänden. Hinter der Diskriminierung, so die Behauptung, stehe eine übergeordnete Agenda, die bewusst ein „Feindbild Islam“ produziere und propagiere.
Weitere Abwertungserfahrungen verleihen dem islamistischen Deutungsangebot von den „verfolgten Muslimen“ Glaubwürdigkeit und Attraktivität. Die Akzeptanz islamistischer Lösungsangebote und Ideologie sowie eine gesellschaftliche Abschottung sollen damit begünstigt und angestoßen werden.
Andocken an Uiguren-Frage und Antisemitismuskritik
jugendschutz.net beobachtet, dass islamistische Gruppen im Netz regelmäßig die Situation der Uiguren in China für ihre Propaganda instrumentalisieren. Die muslimische Minderheit der Uiguren ist einer massiven Unterdrückung durch die chinesische Zentralregierung ausgesetzt, worüber sich nicht nur die muslimische Onlinecommunity seit geraumer Zeit empört. Islamistinnen und Islamisten nutzen diese Aufmerksamkeit, um ihr eigenes Opfernarrativ medienwirksam zu verbreiten. Dabei inszenieren sie sich als die einzigen „Verteidiger“ muslimischer Minderheiten. Die Lage der Uiguren wird als Beleg für eine weltweite Verfolgung von Musliminnen und Muslimen dargestellt. Gegen diese wird eine eigene Staatsordnung unter islamistischen Maßgaben als Lösung angeboten.
Um dem Nachdruck zu verleihen, zieht islamistische Propaganda häufig Vergleiche zu anderen Opfer-Täter-Analogien, etwa zur Behandlung von jüdischen Menschen während der NS-Zeit. Dabei werden Musliminnen und Muslime als „neue Juden” dargestellt. Islamistische Propaganda knüpft hier an Holocaustgedenken, Antisemitismuskritik und -protest an und nutzt sie, um für eigene Deutungsangebote zu werben. Dies ist besonders paradox, da Antisemitismus selbst oft Bestandteil islamistischer Weltanschauung ist.
Dichotomes Weltbild: Entweder Freund oder Feind
Das „Wir-gegen-die”-Narrativ von Islamistinnen und Islamisten verweist wie jenes des Rechtsextremismus auf ein dichotomes Weltbild. In diesem definiert sich die Eigengruppe über die Abgrenzung zur Fremdgruppe.
Islamistische Akteure erachten die muslimische Gemeinschaft dabei als solidarische, geschlossene Gegengesellschaft mit festem, einheitlichem Wertesystem. Dieser stünde unversöhnlich die deutsche Mehrheitsgesellschaft bzw. die „westliche Welt“ feindselig gegenüber. Deren Ziel sei es, die muslimische Identität zu zerstören. Islamistinnen und Islamisten nehmen in dieser Weltsicht die Vorkämpfer- bzw. Verteidigungsrolle ein, aus der heraus sie für die gesamte „muslimische Weltgemeinschaft” einzutreten vorgeben.
Im salafistischen Spektrum des Islamismus wird die Verfolgung muslimischer Menschen geradezu romantisierend in die historische Schicksalshaftigkeit ihrer Religion eingeordnet. Musliminnen und Muslime werden als eine von Beginn an verfolgte Gruppe aufgefasst, die Teil eines ewig andauernden Kampfes sei.
Auch aktivistische Islamistinnen und Islamisten, die der Hizb ut-Tahrir nahestehen, vertreten dieses Deutungsmodell mit Gegenwartsbezug: Muslimische Menschen stünden einer feindlichen politischen Agenda gegenüber, die die Zerstörung muslimischer Identität zum Ziel habe.
Rechtsextremer Terror unterstützt islamistisches Bedrohungsnarrativ
Rechtsterroristische Anschläge wie in Christchurch, Hanau oder Bærum hatten das ausgewiesene Ziel, möglichst viele Musliminnen und Muslime zu töten. Daneben propagieren Rechtsextreme massiv rassistische Gewalt, auch und insbesondere in den letzten Jahren gegen muslimische Menschen. Diese Drohungen sind ernst zu nehmen und es gilt, konsequent dagegen vorzugehen. Islamistinnen und Islamisten gehen aber über Mahnungen, Anklagen und dem Aufruf zum Handeln gegen rechtsextremen Terror hinaus, wenn sie derartige Angriffe für ihre Agenda instrumentalisieren.
Im Juni 2019 brachte zum Beispiel die rechtsterroristische Gruppierung „Atomwaffen Division Deutschland" Flyer in Umlauf, die sich an muslimische Menschen richtete und ihnen Gewalt ankündigte.
Islamistische Gruppen reagierten unmittelbar auf dem Messenger-Dienst Telegram, um das von ihnen entworfene Bedrohungsszenario noch zu verstärken. Sie animierten ihre Gefolgschaft dazu, sich etwa durch Sport zu stärken und Pfeffersprays zu besorgen, um für den „Ernstfall" gerüstet zu sein. Aufrufe zum Selbstschutz werden mit dem Schreckensszenario einer großangelegten Vernichtungs- und Vertreibungsaktion verbunden.
Nach dem rassistischen Attentat in Christchurch, Neuseeland, verkündeten Islamistinnen und Islamisten, mitverantwortlich für den Anschlag sei eine „Dämonisierung“ des Islams. Tatsächlich hängen (nicht nur) Rechtsterroristen der Verschwörungsvorstellung vom großangelegten Bevölkerungsaustausch an. Demnach dienten muslimische Immigrantinnen und Immigranten als eine Art demografische Waffe, insofern mit ihnen die vermeintlich angestammte oder „westliche“ Bevölkerung verdrängt würden. Antimuslimischer Rassismus, wie er auch im Alltag vorkommt, kann die Grundlage für solche Verschwörungsmythen sein oder sie noch bestärken.
Islamistinnen und Islamisten verknüpften allerdings den rassistischen Gewaltakt von Christchurch mit der Idee einer vermeintlich feindlichen westlichen Integrationspolitik, deren Ziel es sei, die islamische Identität und Lebensweise zu bekämpfen. Sie propagieren damit selbst, wenn natürlich auch gegenläufige, Verschwörungserzählungen.
Das Video, welches der Täter selbst während seiner Mordtaten aufnahm und live ins Netz streamte, kursierte dementsprechend nicht nur in rechtsextremen Kreisen im Netz: jugendschutz.net stieß mehrfach darauf, als es nicht-militante Islamistinnen und Islamisten weiterverbreiteten, um das „Wir-gegen-die"-Narrativ zu untermauern. Auch dschihadistische Akteurinnen und Akteuren, die ihre Anhänger zum gewaltsamen Widerstand aufriefen, teilten es online mehrfach. Das zeigt, wie dieselbe terroristische Propaganda von gegenläufigen extremistischen Lagern für verschiedene Zwecken verbreitet wird.
Vermeintlicher Ausweg: Selbstabgrenzung von „Nichtmuslimen”
Islamistinnen und Islamisten bieten jungen Userinnen und Usern mit Rassismuserfahrung einen vermeintlichen Ausweg aus der von ihnen empfundenen Machtlosigkeit, indem sie ihnen die Möglichkeit geben, sich stark zu fühlen.
Junge Menschen finden hier nicht nur die ersehnte Anerkennung, sondern auch Möglichkeitsangebote, aktiv zu werden und ihrem Leidensdruck Luft zu machen.
Islamistische Akteure nutzen Diskriminierungs- und Marginalisierungsgefühle aus und deuten sie gemäß eigener Narrative um. Dafür bedienen sie sich ihrer Ideologie gemäß Strategien der Abgrenzung und der einfachen Wahrheiten.
Salafistische Akteure sprechen junge Userinnen und User überwiegend emotional an. Sie kritisieren die „westliche“ und damit unsittliche Lebensweise junger Musliminnen und Muslime. Dabei versuchen sie, ein schlechtes Gewissen zu erzeugen oder an ein solches zu appellieren. Schließlich fordern sie zum Rückzug aus und zur Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft auf. Nur auf diesem Weg könne der „richtige Islam“ praktiziert werden.
Gruppierungen, die der in Deutschland verbotenen Hizb ut-Tahrir nahestehen, verfolgen das Ziel, langfristig ein Kalifat, d.h. einen „Gottesstaat“ nach islamischem Vorbild, zu errichten. Sie versuchen, junge Menschen eher auf intellektueller Ebene sowie mit Mitteln der Protestkultur zu erreichen und rufen verstärkt dazu auf, „aktiv” zu werden. Reichweitenstark haben sie das rechtsextrem motivierte Attentat in Hanau am 19. Februar 2020, dem neun Menschen zum Opfer fielen, für ihre Propaganda instrumentalisiert. Im Windschatten der breiten öffentlichen Proteste gegen den Anschlag flochten sie eigene Anliegen und Themen wie die Kopftuchfragen in den Widerstand gegen Rassismus und Rechtsextremismus ein.
Der rechtsextreme Anschlag beweise, dass die muslimische Gemeinschaft bedroht sei. Doch Musliminnen und Muslime stünden – so die Botschaft – dem nicht schutzlos gegenüber. Aktivistische Islamistinnen und Islamisten setzten in ihrer Propaganda auf Empowerment nach dem Motto „Zusammen sind wir stark“. Besonders junge Menschen sollen dadurch angesprochen werden und sich als Teil einer großen Gemeinschaft fühlen, die gemeinsam etwas gegen Ungerechtigkeit und Angriffe tut. Legitime Anliegen, Ängste und Wut wurde so ausgenutzt, um Jugendliche zu ködern und für die islamistische Agenda zu gewinnen.
Begegnungsformen und -risiken für Heranwachsende
Kinder und Jugendliche können im Netz leicht mit dem von Islamistinnen und Islamisten propagierten dichotomen Weltbild konfrontiert werden. Die entsprechenden Inhalte werden in großen, bei Jugendlichen beliebten Social-Media-Diensten wie Instagram, YouTube oder in Telegram in offenen Gruppen oder Kanälen eingestellt und geteilt. Dabei handelt es sich keineswegs nur um extreme Nischen des Netzes: Teils auch auf Seiten, die sich hauptsächlich mit Aspekten des religiösen Lebens befassen, finden sich mitunter islamistische Inhalte als legitimer sozialer, glaubensbezogener Aktivismus.
Islamistinnen und Islamisten versuchen zudem, etwa durch Twitterkampagnen wie #NichtOhneMeinKopftuch oder #StopMacron Reichweite und Aufmerksamkeit für ihre Botschaften zu generieren. So entsteht das zusätzliche Risiko, dass junge Userinnen und User unbeabsichtigt auf entsprechende öffentlich zugängliche Inhalte stoßen: Heranwachsende, die zunächst lediglich an einer Protestaktion gegen Rassismus teilnehmen wollen, werden auf andere Plattformen und Angebote gelockt und dort an demokratiefeindliche Botschaften herangeführt.
Unbedingt aufmerksam sollten Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen werden, wenn Kinder und Jugendliche auf Seiten stoßen, die eine Ablehnung demokratischer Werte wie dem der Meinungsfreiheit und der Gleichberechtigung erkennen lassen. Klassische islamistische Themen sind zudem die unkritische Betrachtung des historischen Kalifats und die Gegenüberstellung der “westlichen Welt” mit einer scheinbar widerspruchsfreien und idealisierten islamischen Gesellschaftsordnung. Kritisch hinterfragt werden sollten zudem Inhalte auf Seiten, die in besonderem Maße Übergriffe auf Muslime behandeln: Werden rassistische Angriffe wie der in Hanau 2019 als ausschließlich muslimfeindlich gedeutet, um zu polarisieren („Wir“ gegen „Die“)? Werden auch andere Betroffenengruppen und Mehrfachdiskriminierung berücksichtigt? Wird das pauschale Opfernarrativ weltweit unterdrückter oder sogar bekämpfter Musliminnen und Muslime bedient und damit für vermeintliche Lösungen wie gesellschaftliche Selbstabgrenzung oder den Aufbau einer eigenen religiös begründeten Staatsordnung geworben?
Natürlich ist nicht jeder Online-Auftritt, der diese und ähnliche Merkmale aufweist, deshalb schon automatisch als extremistisch einzustufen. Rassismus ist eine drängende gesellschaftliche und politische Herausforderung für die Demokratie. Das entsprechende Engagement dagegen darf und muss vielleicht sogar energisch und scharf im Ton sein, dabei auch in seinen Bildern und Aussagen überspitzen.
Umso wichtiger ist es aber, islamistische Propaganda davon zu unterscheiden, die in seinem Windschatten eine eigene Agenda verfolgt – eine, die selbst von Vorstellungen der Ungleichwertigkeit geprägt ist. Schließlich ist das Risiko für Heranwachsende, das mit diesen Formen islamistischer Propaganda einhergeht, deswegen so groß, weil sie besonders schwierig als solche zu erkennen ist. Eltern und pädagogische Fachkräfte müssen daher genau hinsehen, wenn sie sich mit dem Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen, der sich in einem solchen thematischen Umfeld bewegt.
Antimuslimischer Rassismus und Islamismus als rechtliche Grauzone
Grundsätzlich werden die meisten Äußerungen im Netz durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Diese Freiheit findet ihre Grenzen jedoch u.a. in den Bestimmungen des Jugendmedienschutzes. Meist eindeutig ist dies bei drastischen und auch strafrechtlich relevanten Verstößen wie Volksverhetzung oder expliziten Gewaltaufrufen. Weniger klar verhält es sich mit Fällen, die unterhalb dieser Schwelle liegen. Auch diese können jugendmedienschutzrechtlich problematisch sein. Fälle von antimuslimischem Rassismus sind online häufig in diesem Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und Jugendmedienschutz angesiedelt. Das gleiche gilt für islamistische Propaganda. Vor allem, wenn sie sich in Grenzbereichen der Religionsfreiheit und des legitimen politischen und sozialen Aktivismus bewegt.
jugendschutz.net hat den Auftrag, Kinder und Jugendliche vor gefährdenden oder stark belastenden Inhalten im Netz zu schützen.
Dazu gehören auch Inhalte, die potentiell die Entwicklung junger Menschen beeinträchtigen können, etwa durch diskriminierende Darstellungen oder extremistisches Gedankengut. Eine Entwicklungsbeeinträchtigung kann sich daraus ergeben, dass Userinnen und Usern die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der ihr zugrundeliegenden Werte nahegelegt werden. Auch bei Angeboten, die dem Toleranzgebot, dem Schutz der Menschenwürde oder von Ehe und Familie zuwiderlaufen, kann eine Entwicklungsbeeinträchtigung in Betracht kommen. Dies vor allem, wenn sie derart gestaltet sind, dass junge Menschen sie nicht mit ausreichender Differenziertheit und Distanz betrachten und einordnen können. Wird eine solche Entwicklungsbeeinträchtigung durch die Kommission für Jugendmedienschutz oder durch eine anerkannte Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen ihrer Zuständigkeit festgestellt, darf der Inhalt Jugendlichen erst ab einer bestimmten Altersstufe zugänglich gemacht werden (z.B. am 16 oder ab 18 Jahren).
Die Bewertung entwicklungsbeeinträchtigender Inhalte gestaltet sich im Vergleich mit jenen einer klaren Jugendgefährdung komplex. Deshalb ist jeder Einzelfall sorgfältig zu prüfen, etwa unter Berücksichtigung des Kontextes. Im Spannungsfeld der verschiedenen Rechte und angesichts unterschiedlicher Auslegungsmöglichkeiten von Äußerungen bleiben viele islamistische Inhalte, aber auch solche, die antimuslimischen Rassismus transportieren und anheizen mögen, häufig für Jugendliche uneingeschränkt online. Besonders zivilgesellschaftliches Bewusstsein und Engagement, auch in Form von Kampagnen und Projekten wie #NichtEgal, „bildmachen“ oder „Wie wollen wir leben“, sind hier wichtig, um der Eskalationsspirale entgegenzuwirken.
Handlungsmöglichkeiten für die medienpädagogische Praxis, Jugendarbeit und Medienbildung
Islamistinnen und Islamisten haben leichtes Spiel, wenn junge Menschen rassistische Ausgrenzung erfahren und sich dieser gegenüber ohnmächtig fühlen. Deshalb dürfen vor allem diskriminierte und marginalisierte Jugendliche nicht alleine gelassen werden. Es ist unerlässlich, Antidiskriminierungsstrukturen und Unterstützungsangebote an Schulen und in der sozialen Jugendarbeit zu fördern und Jugendliche im Rahmen demokratischer Leitlinien zu empowern.
Auch eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung und generalpräventive Ansätze sind notwendig, um antimuslimischen Rassismus zu bekämpfen. Damit sich junge Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer Erlebniswelt ernstgenommen fühlen, müssen ihre Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen in der politischen Bildungsarbeit als gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen, angesprochen und behandelt werden.
Die Arbeit mit Jugendlichen kann einen geschützten Rahmen für Reflexion und Austausch bieten, in dem Unmut und Ängste von ihnen thematisiert werden. Junge Menschen mit und ohne Diskriminierungserfahrung sollten dabei für die Themen Vorurteile und Ausgrenzung sensibilisiert sowie gestärkt werden. Im Hinblick auf antimuslimischen Rassismus im Netz sollte vermitteln werden, wie Userinnen und User Medien selbstbestimmt nutzen und hinterfragen können. Das bedeutet u.a., Hass- und Hetzbotschaften ebenso wenig als ‚normal‘ zu erachten, wie die ideologisch motivierten Versuche, solche Inhalte als repräsentativ für das gesamte Meinungsklima darzustellen.
Globale politische und historische, aber auch alltägliche Ereignisse, Probleme und Ungerechtigkeiten sollten vor diesem Hintergrund im schulischen Kontext als solche thematisiert werden. Dabei geht es nicht darum, reale politische und soziale Widersprüche abzutun, die gerade Heranwachsende als amoralisch
oder als Ausdruck von Doppelmoral empfinden. Stattdessen geht es darum, differenzierte Sichtweisen, das Aushalten von Ambivalenzen und den Umgang mit Komplexität zu vermitteln oder entwickeln zu helfen.
Das bedeutet etwa, einfache Täter-Opfer- oder Freund-Feind-Schemata als solche zu durchzuschauen und aufzulösen. Auch die kritische, aber besonders sensible Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Strömungen des Islams und damit einhergehenden Radikalisierungsverläufen gehört dazu. Dabei kann es sinnvoll sein, Expertinnen und Experten hinzuzuziehen, um islambezogene Themen in der Bildungs- und Jugendarbeit zu behandeln.
Februar 2021