Report: Antisemitismus online 2.0
Die vorliegende Recherche untersucht antisemitische Aussagen auf reichweitenstarken Angeboten, vor allem bei jugendaffinen Plattformen wie Instagram und YouTube. Hier lässt sich eine massive Verbreitung antisemitischer Aussagen belegen. Es zeigt sich, dass antisemitische Hetze online nicht nur von Extremistinnen und Extremisten verbreitet wird, sondern in vielfacher Form in szenefremden Kontexten existiert. Verschwörungstheorien werden ebenso reproduziert wie antisemitische Stereotype. Auch wird das hohe Konfrontationsrisiko deutlich, mit antisemitischen Inhalten in Kontakt zu kommen.
Normalisierung des Hasses: Hohe Verbreitung antisemitischer Inhalte
Sicht- und Hörbarkeit von Antisemitismus sind zum festen Bestandteil von Online-Informationsstrukturen geworden. Zu beobachten ist dabei eine stete Ausweitung des Sagbarkeitsfeldes. Antisemitische Hetze findet immer offener auf allen Social-Media-Plattformen statt. Die durch die Schwerpunktrecherche, aber auch durch das kontinuierliche Monitoring gewonnen Erkenntnisse stützen auch Langzeituntersuchungen wie „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses“, die eine signifikante Zunahme von Antisemitismus im Netz belegen.
Die Suche mit Begriffen wie „Juden“, „Judentum“, „Shoah“ oder „Israel“ führt oft zunächst zu Ergebnissen in aufklärerischem Kontext. Die Kommentarspalten sind jedoch häufig Sammelbecken antisemitischer Sprachmuster und Hasstiraden, Verschwörungstheorien oder strafbarer Aussagen. So erscheint Hassrede und Hetze gegen Menschen jüdischen Glaubens online oft als sagbar, frei von möglichen Sanktionen.
Unreflektierte und unkritische Online-Kommunikation, die Stereotype und Hass reproduziert oder toleriert, ist mitverantwortlich für die Weiterverbreitung und Normalisierung antisemitischen Gedankengutes.
Aufbau der Schwerpunktrecherche
Die aktuelle Recherche schließt an die vorherige Untersuchung „Report: Antisemitismus online“ an. Lag deren Schwerpunkt auf explizit extremistischen Inhalten, konzentriert sich die aktuelle Recherche auf hochfrequente, reichweitenstarke Beiträge auf den jugendaffinen Plattformen YouTube, Instagram, Twitter und Facebook. „Reichweitenstark“ im Sinne der Recherche waren Profile, Kanäle oder Beiträge mit jeweils mehr als 10.000 Likes, Followern oder Views.
Im Rahmen der Recherche wurden fast 5.000 Profile, Beiträge und Videos sowie ca. 100.000 Kommentare ausgewertet. Dazu kommen zahllose zumindest kursorisch gesichtete Inhalte und Kommentare allein bei verschiedenen Videos mit bis zu über 350.000 Kommentaren. Explizit dokumentiert wurden mehr als 400 Beispiele, um sowohl antisemitische Hetze wie auch digitales Engagement gegen Hass aufzuzeigen.
Hasskommentare: Von Nachrichtenmeldungen zu antisemitischer Hetze
In der Recherche wurde kaum ein Diskussionsbereich ohne hohes Konfrontationsrisiko mit antisemitischen Inhalten gefunden. Gerade jugendliche Userinnen und User nutzen Social-Media-Plattformen als Nachrichtenquelle. Kommentarspalten unter Meldungen etablierter Nachrichtenseiten werden von ihnen genutzt, um Meinungen und Informationen zu tagesaktuellen Themen auszutauschen.
Insbesondere Meldungen über historische Ereignisse oder den Nahost-Konflikt wirken als Auslöser für antisemitische Hetze. Israelbezogener Antisemitismus ist dabei eine der dominantesten Formen des Antisemitismus online. Gerade hier gab es strafbare Verstöße wie Volksverhetzung und Relativierungen bzw. Leugnungen des Holocausts. Auch Verschwörungstheorien, um Menschen jüdischen Glaubens als Ursache für globale Missstände darzustellen, finden sich fast immer in diesem Kontext.
Ein Pro7-TV-Beitrag über jüdisches Leben in Israel, der bei YouTube online ist, verzeichnet beispielsweise mehr als 775.000 Aufrufe und 4.375 Kommentaren. Darunter finden sich antisemitische Hassbeiträge, Leugnungen von nationalsozialistischen Verbrechen und das Zerrbild einer angeblich jüdischen Weltverschwörung:
„Der Krebsgeschwür Zionistischer Staat Israel ist ein Terroristischer Faschistischer Staat und USA und Europa wird von diesem Krebs-geschwür diktiert. Leider sowohl die USA, EU Staaten ind auch islamische Staaten sind unter dem Befehl der Zionisten unterdrückt, ausgebeutet und vergewaltigt.Wer sich dagegen Wehrt wird vernichtet“
Verschwörungstheorien trenden: Antisemitismus in jugendaffinen Formaten
Antisemitische Verschwörungstheorien erfahren auf allen Social-Media-Plattformen starke Verbreitung und erzielen bisweilen besonders hohe Reichweiten. Die Suche nach Begriffen wie „Rothschild“ – ein klassisches Buzzword antisemitischer Verschwörungstheorien – zeigt beispielsweise auf YouTube unter den ersten Treffern zahlreiche Videos mit solchen Bezügen.
Aber auch Recherchen zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten beispielsweise über den Klimawandel oder Greta Thunberg zeigen unter den ersten Suchergebnissen Verschwörungstheorien, die komplexe Sachverhalte mit simplifizierenden Aussagen „erklären“. So stecke beispielsweise hinter Thunbergs Engagement ein Plan des jüdischen Philanthropen und Investors Georg Soros. Die in der Recherche dokumentierten Aufrufzahlen zeigen das hohe Interesse an diesen Theorien.
Einfache Welterklärungsmodelle sind für Jugendliche besonders attraktiv: Sie versprechen einerseits Orientierung. Andererseits eröffnen sie auch einen Rahmen, in dem Altes und Bekanntes angezweifelt und abgelehnt und so dem Wunsch nach jugendlicher Rebellion nachgegangen werden kann. Nicht ohne Grund genießen etwa die „Conspiracy Theory“ (dt. Verschwörungstheorie) Videos des populären US-amerikanischen YouTubers Shane Dawson mit durchschnittlich 20 Millionen Aufrufen große weltweite Aufmerksamkeit von einem jungen Publikum.
Ein deutschsprachiges Beispiel ist der YouTuber „Leon-Lovelock“ mit über 380.000 Abonnenten und sechsstelligen Zugriffszahlen, dessen Videos sich an eine junge Zielgruppe richten. So interviewt er in einem Format überwiegend Rapperinnen und Rapper, bietet aber auch diversen, nicht selten antisemitischen Verschwörungstheorien von 9/11 als „Insidejob“ bis zu magischen Wesen, die die Pyramiden erbaut hätten, eine Plattform. Solche Verschwörungstheorien werden unkritisch wiedergegeben und erscheinen als ernstzunehmende Alternativen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Realität.
Verstöße und Maßnahmen: Direkter Kontakt erfolgreich
Im Rahmen der Recherche wurden zahlreiche antisemitische Inhalte und Aussagen festgestellt. In 187 Fällen leitete jugendschutz.net aufgrund jugendmedienschutzrechtlicher Verstöße mit Bezug zu Antisemitismus Maßnahmen ein. In den meisten Fällen konnte kein deutscher Verantwortlicher festgestellt werden. Über den direkten Kontakt zum Provider konnten fast 88 % der Fälle gelöscht oder für Deutschland gesperrt werden. In 18 Fällen wurde über die KJM eine Indizierung durch die BPjM angeregt. Vier Angebote wurden an die KJM zur Einleitung eines Prüfverfahrens übermittelt.
Bei den Verstößen handelte es sich in der Regel um volksverhetzende oder den Holocaust leugnende Inhalte sowie bildliche Darstellungen von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. In lediglich fünf Fällen lag eine Jugendgefährdung vor, die keine Strafbarkeitsnormen berührte. Entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte wurden nicht festgestellt.
Der deutliche Großteil an antisemitischen Inhalten blieb jedoch gänzlich unterhalb der Schwelle zum Verstoß. Dies macht deutlich: Neben jugendmedienschutzrechtlichen Maßnahmen sind Provider, Userinnen und User wie auch die medienpädagogische Prävention Bestandteil einer notwendig mehrdimensionalen Strategie gegen antisemitische Hetze.
Richtlinien und Moderation: Anbieter in die Pflicht nehmen
Eine Eindämmung von Antisemitismus online ist ohne deutlicheres und effektiveres Vorgehen der Social-Media-Dienste gegen Hass-Content nicht möglich. Nötig ist das erkennbare Umsetzen und Einhalten ihrer Selbstverpflichtungen aus Content-Richtlinien.
Antisemitismus wird auch durch die Vorschlagsalgorithmen der Social-Media-Plattformen befeuert, indem ihre Reichweite erhöht wird. Automatisierte Vorschläge nach dem Muster „ähnliche Beiträge“ führen zu einer Flut weiterer Hassinhalten. Anbieter sollten dem entgegentreten, in dem aufklärerische Inhalte, Widerspruch und „counter narratives“ gleichsam in den vorgeschlagenen Inhalten angezeigt werden.
Wichtig ist bei reichweitenstarken Angeboten auch eine erkennbare und konsequente Moderation. Häufig erschien dieser Bereich in der Recherche als unbeachtet oder nur halbherzig wahrgenommen. Die gelebte (Mit-)Verantwortung der Betreiberinnen und Betreiber für die in ihren Kanälen und Profilen geposteten Kommentare ist dringend nötig, um Grenzen aufzuzeigen und durchzusetzen.
Aufklärung und Prävention: Digitales Engagement notwendig
Eine langfristige Eindämmung von Antisemitismus online erfordert die Stärkung des reflektierten Umgangs mit diesem Thema. Dabei stehen Träger der schulischen wie außerschulischen Bildung im Fokus, wirksame Konzepte der historischen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu entwickeln.
Gerade mit Blick auf die subtilen und latenten Formen des Antisemitismus ist Aufklärung nötig. Ziel muss sein, junge Userinnen und User zu befähigen, Antisemitismus zu erkennen und Handlungsoptionen an die Hand zu geben. Neben dem direkten Widerspruch, beispielsweise in Form von Kommentaren, kann auch das Melden von Inhalten eine Möglichkeit sein, sich gegen die Verbreitung antisemitischer Inhalte einzusetzen.
November 2019